Wiener Fenstersturz : oder: Die Kulturgeschichte der Zukunft

Gstättner, Egyd, 2017
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Medienart Buch
ISBN 978-3-7117-2055-9
Verfasser Gstättner, Egyd Wikipedia
Systematik DR - Prosa - Roman - Novelle - Erzählung
Schlagworte Wien 1938, Selbstmord Egon Friedell, Seelenreise, H. G. Wells
Verlag Picus-Verl.
Ort Wien
Jahr 2017
Umfang 317 S.
Altersbeschränkung keine
Sprache deutsch
Verfasserangabe Egyd Gstättner
Annotation Quelle: bn.bibliotheksnachrichten (http://www.biblio.at/literatur/bn/index.html);
Autor: Simone Klein;
Eine burleske Hommage an Egon Friedell. (DR)
Der studierte Philosoph und als freier Schriftsteller in Klagenfurt lebende Egyd Gstättner hat seit den 1990ern zahlreiche essayistische Artikel in Zeitungen und Zeitschriften publiziert und Radiofeatures gestaltet, bevor er in den 2000ern die "Welt von Gestern" und speziell die Wiener Moderne als Quell für sein weiteres literarisches Schaffen entdeckte. War etwa "Das Geisterschiff" dem österreichischen Maler und Grafiker Josef Maria Auchentaller gewidmet, so huldigt Gstättner im aktuellen Roman dem Universalschriftsteller Egon Friedell. Und dies in angemessener Weise, indem er das Werk nicht als Biografie, sondern vielmehr in zweifacher Weise burlesk angelegt hat: Einerseits in einer grotesken Handlung, wenn der im März 1938 sich aus dem Fenster in den Freitod stürzende Friedell von H.G. Wells Zeitmaschine abgeholt wird, um zunächst das rastlose Wien von heute zu besuchen und danach in scharfem Kontrast in das Wien der Gründerzeit und somit in Friedells Kindheit zu reisen, wo wir unter anderem erfahren, dass nicht ein Radfahrer, sondern der ungeschickte H.G. Wells den Tod von Karl Kraus auslöste. Dem nicht genug, zieht sich durch den "Wiener Fenstersturz" die Kulturgeschichte als Groteske an sich, wenn Gstättner im Geiste Friedells die zahlreichen und offensichtlich zeitlosen Verfehlungen der Menschheit zelebriert. Friedell hätte am "Wiener Fenstersturz" gewiss seine Freude gehabt, war ihm doch letztlich "alle Kunst eine große Lausbüberei" - und als solche möge das Buch eine breite Leserschaft finden.
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Quelle: Literatur und Kritik;
Quelle: Literatur und Kritik, Karin S. Wozonig
Der Fall Friedell
Egyd Gstättners »Wiener Fenstersturz oder: Die Kulturgeschichte der Zukunft«
Es gibt Leben, die sind dazu gemacht, nacherzählt zu werden. Und es gibt Tode, die jeden halbwegs phantasiebegabten Menschen dazu bringen, sich ihre Vorgeschichte auszumalen. Biographien zu schreiben ist aber schwierig. Das Problem, dass wir nie mit Sicherheit sagen können, wie sich ein anderer Mensch gefühlt hat oder was er in seinem Leben gedacht hat, und der Umstand, dass wir noch weniger als über das fremde Leben über das fremde Sterben sagen können, ist vermeintlich mit der Literarisierung der historischen Person zu lösen. Aber so einfach ist das nicht. Die Zahl der missglückten Biographieromane oder Romanbiographien ist groß. Die Anschaulichkeit, mit der Daniel Kehlmann Humboldts vom Zitteraal verursachte Schauer darzustellen vermag (»Die Vermessung der Welt«), oder die Virtuosität, mit der Thomas Stangl aus seinen und anderer Menschen Bücher-Reisen einen Roman über die Entdecker Laing und Caillié und ihre Suche nach Timbuktu macht (»Der einzige Ort«), oder auch die Biographieverweigerung, die bei Marlene Streeruwitz mit der Lebenserzählung einhergeht (»Nachwelt. Ein Reisebericht«), sind Beispiele dafür, wie die Fiktionalisierung gelebter Leben und auch gestorbener Tode gelingen kann. Die Beispiele des Missglückens sind in diesem Genre, das auf dem Buchcover die Bezeichnung »Roman« und in sich ein literarisch bearbeitetes historisches Leben trägt, viel häufiger.
Im Zentrum von Egyd Gstättners Roman steht Egon Friedell (18781938), Journalist, Kritiker, Schauspieler, Kabarettist und Verfasser der dreibändigen »Kulturgeschichte der Neuzeit«. Gstättner hat einen guten Einfall: Friedell wird 1938 bei seinem tödlichen Sprung aus dem Fenster auf der Flucht vor der SA von H. G. Wells und dessen Zeitmaschine aufgefangen und die beiden reisen in der einen Sekunde bis zum Tod Friedells in das zukünftige, also gegenwärtige, Wien und in Friedells Kindheit. Aber die Rechnung geht nicht auf. Wir erfahren im Roman allerlei Faktisches über Friedell und seinen engeren Kreis, etwas über seine Gründe, auch nach dem Aufstieg der Nazis in Wien zu bleiben, viel über sein Übergewicht und über die Frauen in seinem Leben. Und wir erfahren einiges über die sogenannten Kaffeehausliteraten. Deren Sprachwitz war an manchen Stellen so dick aufgetragen, dass er auch noch auf den Dichternachwuchs abfärbt, der bei Gstättner im 21. Jahrhundert in Gestalt des enträtselbaren koks- und medikamentenabhängigen Schriftstellers aus dem Klo des Café Bräunerhof kommt: Glatze, Vollbart, »weit bauchwärts« aufgeknöpftes Hemd (warum sein »üppiges Brusthaar« sich nur den weiblichen Kaffeehausgästen »zur gefälligen Ansicht« darbietet, bleibt ungeklärt). Die Kontamination ist allerdings eine sehr oberflächliche und die Gespräche des Menschen der Zukunft mit den Zeitreisenden sind deutlich mehr kraus als Kraus. Der Umstand, dass H. G. Wells (der als »Eidschi« bezeichnet wird, was die Rezensentin bis zu dem Punkt gut findet, an dem der Autor eine der Romanfiguren es erklären lässt nur zur Sicherheit, falls jemand den Witz nicht verstanden hat?) Friedell mit seiner Zeitmaschine in das Wien der Gegenwart transportiert, gibt Gstättner die Möglichkeit, über Facebook, japanische Touristen, amerikanische Waren- und Geschäftsbezeichnungen, das generelle Rauchverbot, den teilweisen Verlust der Wiener Kaffeehauskultur und das Wahlkartenklebeproblem bei der Bundespräsidentenwahl zu spotten. Den Vorwurf mangelnden Gegenwartsbezugs kann man der »Kulturgeschichte der Zukunft«, so der Untertitel des Romans, nicht machen. Moderne Kommunikationstechnologien, die Informationsflut und Apple kommen dabei besonders schlecht weg. Die Anliegen des Autors stehen einer konsequenten literarischen Durchführung allerdings im Weg und die Perspektive der Zeitreisenden aus der Vergangenheit wird zu oft und vor allem zu beliebig durchbrochen. Aus dem Roman wird hier ein Sammelsurium aus teils amüsanten, weitgehend pessimistischen, an manchen Stellen auch nur übellaunigen Kulturbetrachtungen, dem die Ambition des Epigonen zu deutlich anzumerken ist. Dort, wo weder der fiktive Friedell noch seine schreibenden Zeitgenossen oder Autoren des 21. Jahrhunderts zu Wort kommen, ist der Roman gelungen. Die Romangeschichte des Endes der Ehe von Moriz und Lina Friedmann, der Eltern von Egon Friedell, ist zwar durch die Anwesenheit des in der Zeit zurückgereisten Sohns, der sich in mehrfacher Hinsicht selbst begegnet, zeitlich verortet. Vor allem haben wir es hier aber mit einer psychologisch plausiblen Schilderung einer Trennung zu tun. Die Erbitterung der Frau, die nach Jahren aus der Ehe ausbricht und ihre Kinder zurücklässt, ohne Vorwarnung, ohne ersichtlichen Grund und mit Eiseskälte; die folgende Wut und Verzweiflung von Mann und Sohn, die ein emotionales Recht auf die Liebe und eine intakte Familie zu haben glauben, sind überzeugend, würden aber besser in ein anderes Buch passen. Denn als Erklärung für irgend etwas im weiteren Leben Egon Friedells, als die sie durch das Eingangszitat des Buchs markiert ist, taugt die kalte Zurückweisung des seltsam undefiniert bleibenden, altklugen, zornigen Sohns durch seine Mutter nicht. Wie überhaupt in diesem Buch weder der historische Egon Friedell noch die gleichnamige Romanfigur wirklich plastisch werden, wohl aber der Kolumnist Egyd Gstättner.

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Quelle: Pool Feuilleton;
Der zweite Prager Fenstersturz gilt als der Beginn des Dreißigjährigen Krieges, der Wiener Fenstersturz des Schriftstellers Egon Friedell als die Beendigung des Ständestaat Österreichs 1938.
Egyd Gstättner lässt in seinen Romanen immer das Unwahrscheinliche als gesicherte Fiktion auftreten. Im Falle des Wiener Fenstersturzes kümmert e 10b3 r sich um die Tatsache, dass angesichts des Todes das Leben noch einmal vorüberzieht und dabei durchaus in die Zukunft schauen kann. Der Schriftsteller Egon Friedell springt am 16. März 1938 aus dem dritten Stock seiner Wiener Wohnung, als er von der SA aufgesucht wird. Zuvor hat er sich schon bei Freunden um Gift oder Pistole erkundigt, für den Fall des Falles.
Im Roman springt der Held, während im Hintergrund schon die Zeitzeugen einsetzen, die das Leben des bald Toten in allen Schattierungen erzählen. "Die Kulturgeschichte der Neuzeit ist aus dem Fenster gesprungen. Die ganze Lektüre ist jetzt tot." (45) In der Folge kommen die Bücher zu Wort, die Schwimmaufenthalte am Hechtsee in Kufstein, die Pointen der Gespräche. So soll Friedell einen Penisneid auf das Wort Penisneid entwickelt haben, weil dieser Begriff von Freud erfunden worden ist und nicht von ihm, dem lexikologischen Spezialisten. Es folgt ein stilles Begräbnis, weil die meisten Freunde schon geflohen sind, und auch für eine Totenmaske reicht es nicht, wiewohl Friedell immer Goethe gespielt hat bis hin zur Totenmaske.
Aber der Held fällt und fällt und kommt nicht unten an. Der Arzt schreibt von einem Herzschlag während des Sturzes. In Wirklichkeit aber ist H.G. Wells mit seiner Zeitmaschine vorbeigekommen und hat ihn mitgenommen, zumal er auch einen Text über die Zeitmaschine verfasst hat.
In dieser Zeitlimousine, die angenehm zu fahren ist, kommen die beiden in der aktuellen Gegenwart an. Wells und Friedell sind überrascht, wie Wien jetzt ausschaut, und wie sich das Land völlig anders entwickelt hat als geplant. Friedell will ursprünglich die Kulturgeschichte der Neuzeit fortschreiben in die Zukunft, merkt aber, dass durch den Auftritt von Massen sich das Zeitgefüge verändert hat. Am meisten erstaunt ihn als Schauspieler, dass die politischen Rollen jetzt alle mit Schauspielern besetzt sind. Das Wort googeln wird mit gurgeln übersetzt, und tatsächlich wird das Wissen mehr gegurgelt als geschluckt.
In die Zukunft haut man ab, während man sich in der Vergangenheit vergräbt. Nach diesem Motto geht es im letzten Kapitel in die erschriebene Vergangenheit, die Werke erklären sich bereits selbst, während sie für die Nachrufe des Toten herhalten müssen.
Egyd Gstättner gestaltet diesen Wiener Fenstersturz als historische, künstlerische und politische Leistung, die die Tragik vergessen macht, die hinter dem Todessturz steckt. Durch diesen Roman wird Egon Friedell unsterblich, weil er nie am irdischen Auslöschungspunkt ankommt.
Helmuth Schönauer

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