Roman ohne U : Roman

Taschler, Judith W., 2014
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Medienart Buch
ISBN 978-3-7117-2018-4
Verfasser Taschler, Judith W. Wikipedia
Systematik DR - Prosa - Roman - Novelle - Erzählung
Schlagworte Familiengeschichte, Familiensaga, Verkehrsunfall, Flucht aus Sibirien, Gulag-Gefangener, Pianistin
Verlag Picus-Verl.
Ort Wien
Jahr 2014
Umfang 329 S.
Altersbeschränkung keine
Sprache deutsch
Verfasserangabe Judith W. Taschler
Annotation Quelle: bn.bibliotheksnachrichten (http://www.biblio.at/literatur/bn/index.html);
Autor: Maria Schmuckermair;
Ehe- und Familienroman, der die Gegenwart mit der Nachkriegszeit verknüpft. (DR)
Im Zentrum des packenden Plots steht eine äußerst attraktive Mutter von vier Kindern, von denen aber nur eines geplant und erwünscht war. Katharina ist 39 und arbeitet neben dem Haushalt als Biographin, d. h. sie bringt die Lebensgeschichten alter Menschen in eine lesbare Form. Mit ihrem Mann führt sie eine Wochenendehe, denn Julius ist während der Woche als Pharmavertreter in Tirol und Vorarlberg unterwegs und versteht es, trotz der Trennung von seiner Familie nicht einsam zu werden. Er pflegt nämlich eine sehr leidenschaftliche Beziehung zur toughen Architektin Stephanie, von der seine Ehefrau daheim im abgelegenen oberösterreichischen Dorf selbstverständlich nichts ahnt. Trotzdem haben die beiden Frauen miteinander zu tun. Denn Stephanie hat ausgerechnet Katharina beauftragt, die Aufzeichnungen ihres betagten Onkels Thomas zu bearbeiten, der wegen einer läppischen Jugenddummheit 20 Jahre in sibirischen Lagern gefangen war. Aus diesen schrecklichen Erinnerungen, die häppchenweise in das Geschehen eingefügt werden, ergibt sich der zweite Handlungsstrang, der sich zum Schluss auf verblüffende Weise mit dem ersten verknüpft.
Eine gute Grundidee, eine komplexe Erzählstruktur und eine spannende Inszenierung ergeben einen breit zu empfehlenden Roman! (Kleine Einschränkung: Ein sorgfältigeres Lektorat sollte bei einer wünschenswerten zweiten Auflage peinliche das/dass-Fehler oder sprachliche Missgriffe wie "Sie haute ihn von Anfang an um" etc. beseitigen.)

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Quelle: Literatur und Kritik;
Autor: Isabella Pohl;
Mit Geschick und Floskel
Judith W. Taschlers "Roman ohne U"
Der Titel "Roman ohne U" klingt als leipogrammatische Ansage zunächst verlockend. Wenn Georges Perec einen 300-seitigen Roman zu schreiben geschafft hat, in dem der Buchstabe e nicht vorkommt (La disparition, 1969), dann kann ein Roman ohne u, denkt man sich, nicht ganz so schwer sein, aber immerhin eine beachtliche Reminiszenz an die Oulipo-Gruppe darstellen. Leider ist diese erste Assoziation eine falsche Fährte. Bei Judith W. Taschler ist lediglich eine alte Schreibmaschine defekt, und der vor ihr sitzende Autor fragt sich, wie er mit immer blasser werdendem "u" nur über Russland schreiben soll, das ihn 20 Jahre lang "verschluckt" hatte, und über seine große Liebe zu "Ludovica". Geschrieben wird dennoch, mit so vielen Us wie nötig sind, wenn sie auch blasser werden mögen.
Der Roman ohne U ist bei Taschler der Roman im Roman, das geheimnisvolle Manuskript eines Gulag-Überlebenden, das in die Hände der Protagonistin Katharina gerät. Katharina, eine große, blonde Frau von knapp vierzig Jahren, Mutter von vier Kindern, schreibt als Biografin die Lebensgeschichten alter Menschen auf. Dieser Beruf ist für Katharina ein Kompromiss, da sie die Karriere als Werbetexterin der Kindererziehung opfern musste. Katharina lebt mit ihren Kindern (zwischen 17 und sechs Jahren) in der "Bergmühle" in einer oberösterreichischen Kleinstadt ("P."). Ihr Mann Julius lebt unter der Woche in Tirol, wo er als Pharma-Vertreter arbeitet und ungestört außereheliche Beziehungen pflegen kann. Julius wird uns als komischer Kauz geschildert: "Extreme Modernität stößt ihn ab. Er kann in seiner Freizeit stundenlang in seinem Keller einen alten kaputten Kasten oder ein Bett restaurieren, um es wieder zum Leben zu erwecken." Julius steht im Zentrum vieler hochdramatischer Ereignisse, und dementsprechend begegnet er dem Leser schon in seiner ersten Szene in einer hochdramatischen Ausnahmesituation. Auf einer Skitour löst er eine Lawine aus, die ihn überrollt: "Er musste kurz bewusstlos gewesen sein, als er aufwachte, lag er auf der Seite und eine schwere weiße Last war auf ihm, es war dunkel und er konnte sich nicht bewegen. Panik kroch in ihm hoch und er wusste, er würde ziemlich schnell ersticken. Es war der blanke Horror. Ich sterbe, mein Gott, ich sterbe jetzt." Doch Julius befreit sich alsbald aus der misslichen Lage, zieht aus ihr die richtigen Schlüsse ("Stephanie und er würden sich eine andere Sportart suchen müssen!") und kehrt nahezu unbeschadet in seinen komplizierten Liebesalltag zurück.
Judith W. Taschler hat, das merkt man schnell, die guten, alten Journalismus-Regeln von Henri Nannen (in leicht variierter Version) genau befolgt: Mit einem Lawinenabgang anfangen - und dann langsam steigern.
Doch nicht Julius ist die Hauptfigur dieses doch sehr reißerischen Romans, sondern Katharina. Katharina, die sich zwar nur eines ihrer vier Kinder gewünscht hat, sich mittlerweile aber gerne vorstellt, dass Passanten über sie denken: "Vier so nette Kinder! Das muss eine fleißige Frau sein! Wenn wir nur mehr solcher Frauen in unserer Gesellschaft hätten!" Spätestens an dieser Stelle bemerken wir, dass dieser Roman sehr viel leichter ohne U auskommen würde als ohne Rufzeichen. Katharina arbeitet sich nun durch das Manuskript von Thomas, den ein dummer Halbwüchsigenstreich in russische Kriegsgefangenschaft gebracht hatte. Thomas schreibt kurze Stakkatosätze, die er sich bei Marlene Streeruwitz abgeschaut haben könnte: "Es ist schön. Zu schreiben. Die ­Tasten unter den Fingerkuppen zu spüren. Es ist schön. Die eingesperrten Wörter kommen raus." Im Gefangenentransport in Richtung Moskau begegnete dieser Thomas 1945 der schönen Ludovica ("Sie wirkt stark und zart gleichzeitig."), die auf einem Verschiebebahnhof als Lebensretterin auftritt, indem sie auf dem mittransportierten Flügel Schumann spielt und auf diese Weise den unmenschlichen russischen Offizier verzaubert. Man kommt kaum umhin, bei Thomas' Russland-Geschichte von Kitsch zu sprechen, wenn auch mit brutalen Szenen aus Sibirien kombiniertem Kitsch. Missglückte Fluchtversuche des Liebespaars, Folter, Lebensbedingungen im Lager werden von Taschler nahezu ohne Bezug zur historischen Wirklichkeit geschildert. So gelingt es etwa Thomas ohne weiteres, als Arbeiter in der Erzmine eine Ruhrerkrankung vorzutäuschen, ins Lazarett eingeliefert zu werden und dort, von Ludovica als Krankenschwester betreut, bequem auf die ideale Fluchtgelegenheit zu warten. Genauso wenig glaubhaft ist die Episode, in der die erst 17-jährige Klavierspielerin unmittelbar nach Kriegsende allein mit ihrer jüngeren Schwester in das verlassene Wiener Elternhaus zurückkehrt, die Schwes­tern die Villa in Schuss bringen, am Schwarzmarkt einkaufen und sich händchenhaltend Gute-Nacht-Geschichten erzählen, während sie darauf warten, dass auch die verschollenen Eltern zurückkehren. Die sensationsheischende Art und Weise, wie die Autorin sich der Geschichte bedient, ihre plotgierige Romantisierung des Krieges bzw. der Arbeitslager des ­Sowjetregimes, geben der Gulag-Erzählung im Roman einen unangenehmen Beigeschmack.
Kehren wir lieber zurück in die ­Gegenwart, wo Katharina es in den Vorweihnachtstagen liebt, "sich dem Kaufrausch uneingeschränkt hinzugeben, ohne dabei ein schlechtes Gewissen verspüren zu müssen", wo sie nur still nickt, "wenn sich die Bekannten intellektuell gaben und der allgemeine und stöhnende Terror ertönte, dass es so schrecklich degeneriert sei, in überfüllten Shops herumzulaufen und Kram zu kaufen". Katharina wähnt sich im schönsten Familienglück, von ihrer Kontrahentin Stephanie (an der Julius gefällt, dass sie "sich einfach nahm, was sie wollte") hat sie keine Ahnung, und auch den Autor des Russland-Manuskripts hat sie noch nicht kennengelernt. Gemäß dem Prinzip der langsamen Steigerung der 1727 Dramatik hat sie, und mit ihr der Leser, die heftigsten Blitzeinschläge noch vor sich.
In der Figurenkonzeption sticht Judith W. Taschler nicht durch übertriebene psychologische Raffinesse hervor. Julius wird von einem Vaterkomplex geplagt, die Heldin Katharina hadert mit der Mutterrolle und der gescheiterten Karriere. Beider Diskurs besteht häufig aus Stehsätzen, flotten Floskeln und oberflächlichen Phrasen. Gutes tut man sich im Wellnesshotel, in der Bergmühle erliegt man, aus Wien kommend, dem Zauber des Landlebens, die Dorfbewohner sind natur­gemäß "unkompliziert und herzlich". Dabei ist Taschlers Prosa stilsicher und flüssig, ihr Roman ist mit zahlreichen Zeitsprüngen, Vor- und Rückblenden und verschachtelten Kapitelfolgen, den Spannungsbogen nie außer Acht lassend, perfekt konzipiert. Taschlers Roman ohne U ist ein
gekonnt konstruierter, spannend geschriebener, hochdramatischer Liebesroman, den man vor allem begeisterten Leserinnen von Lifestyle-Postillen als Pageturner wärmstens empfehlen kann.

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Quelle: Pool Feuilleton;
Erst die Anwendung des Materials macht aus einem toten Stoff die Literatur. Ein Buch ist so lange tot, so lange es nicht aus dem Regal genommen wird, ein Witz ist so lange kaputt und gibt keine Ruhe, bis er nicht ausgespuckt wird, eine Familiengeschichte bleibt so lange ein bürokratischer Verwaltungsakt, bis endlich jemand darüber zu erzählen anfängt.
Judith W. Taschler benützt in ihren Erzählungen und Romanen ähnlich einer Rahmennovelle die Erfahrung des Lesers als Rahmen, um darin die Geschichte zu installieren. Man könne es vielleicht jene "Rahmenerfahrung" nennen, die die Literatur ermöglicht.
Im Roman ohne U löst ein Vorgang am Rande der Literaturproduktion ein ganzes Lebensprogramm aus. Mitten im Krieg schenkt eine Mutter ihrem Sohn eine Schreibmaschine und verkauft dafür das letzte Schwein. Der Jugendliche schreibt sich durch den Krieg, und als er danach nach New York auswandern will, wirft ihm der Vater die Schreibmaschine zu Boden, so dass das U kaputt geht. Von da an muss er das aufgezeichnete Leben ohne U bestreiten.
Dieses Beispiel für ein Handicap, mit dem man irgendwie zurechtkommen muss, haftet letztlich allen Figuren des Romans an. Es sind nicht ganz vollkommene Figuren die eine keinesfalls vollkommene Geschichte bewältigen müssen.
Der Roman erzählt dabei eine breite Familiengeschichte aus der jüngeren Gegenwart. Die Figuren treten lose auf, starten ein Stück Beziehung, lieben sich anfangs unsäglich und treten dann mit den Gefühlen auf der Stelle und müssen die Sache wieder abbrechen. Jeder hat seine individuelle Geschichte, aber in Summe ergibt sich ein beiläufiger Ablauf von Zufälligkeiten, die der Ordnung halber Familiengeschichte genannt werden.
Zentrum dieses Gemisches ist Katharina, die eingekesselt in der eigenen Familie zu Hause als Familienbiographin arbeitet und zugeschickte Schicksale zu einer satten Biographie aufbläst. Ihr Mann Julius geht schon länger fremd und stirbt bei einem Verkehrsunfall. In diesem Zustand von Befreiung und Trauer wühlt sich Katharina wie wild in eine zugetragene Geschichte, worin der Junge mit der kaputten Schreibmaschine sein berührendes Leben als Nachkriegsgefangener in sowjetischen Lagern erzählt.
In der Verknüpfung von Gegenwart und GULAG rückt dann die wahre Schwerkraft des Lebens in den Vordergrund. Erst wenn es um Leben und Tod geht, kann man die Dimension von Liebe begreifen, erst wenn es um die Liebe geht, kriegen Leben und Tod ihre wahre Dimension.
Judith Taschlers Roman ist jeweils in seinen Ausfransungen und Verknüpfungen auf die Mithilfe des Lesers angewiesen, der aus den durchaus abenteuerlichen Sequenzen sich ein großes Ganzes zusammenzusetzen vermag. Denn gerade das Nichterzählte, die Klusen und Sprünge bringen die Geschichte voran. Wie eben das fehlende U auf der Schreibmaschine durchaus das Getippte vertieft und verschärft. - Eine imposante Erzählweise, wobei dem Leser die letzte Kompetenz für das Funktionieren der Fiktion übertragen wird.
Helmuth Schönauer

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